VORHABEN

an dieser Stelle möchten wir Vajswerk-Projekte in ihrer Planungsphase präsentieren:

• DER WEG DER SPIEGELABLAGE. Waldheim – Moskau – Tel Aviv – Berlin
• VOR MOSKAU. Mikhail Kaluzhskys Tagebuch

DER WEG DER SPIEGELABLAGE
Waldheim – Moskau – Tel Aviv – Berlin
Recherche-Theater-Projekt von Vajswerk Berlin und Sakharov Center Moskva
Projektleitung und Regie: Anastasia Patlay, Mikhail Kaluzhsky, Christian Tietz, Mirko Winkelmann

Als Natalia Konradova ihre Stelle am Peter Szondi Institut antrat und mit der Familie eine Berliner Wohnung bezog, wollte sie im Badezimmer ihre Spiegelablage anbringen. Sie hatte diese von Moskau über Tel Aviv mit hierher gebracht; nun schaute sie zum ersten Mal auf die Rückseite der Ablage, wo das Patentschild einer Firma angebracht war: Gesetzlich geschützt – Rockhausen.
Wie kam die Spiegelablage aus dem sächsischen Waldheim nach Moskau, wie von dort nach Tel Aviv und schließlich nach Berlin? Den Weg zeichnen wir nach, stellen wir dar, als deutsch-russische Theaterproduktion, mit Aufführungen in Berlin und Moskau.

Der biographische Ansatz des Berliner Recherche Theaters Vajswerk und das aktuelle Theaterprogramm „Archeology of Memory“ des Moskauer Sakharov Zentrums bilden hierfür die geeignete Plattform. Russisch und deutsch sind auch die Positionen Projektleitung und Geschichte besetzt. Die Schauspieler*innen sprechen beide Sprachen; der Regisseur hat zwei Pässe, einen russischen und einen israelischen und lebt seit 2015 in Deutschland.

Die Spielfassung entsteht mit beiden Partnern, beiden Historiker*innen, beiden Schauspieler*innen; sie ist gleichermaßen spekulativ und historisch fundiert. Die unterschiedlichen Wegmarken und Lebenslinien werden zum multiperspektivischen und vielstimmigen Prinzip der Inszenierung, die in Moskau und Berlin entsteht und gespielt wird.
Mit „Der Weg der Spiegelablage“ geht es um die Wege zwischen Berlin und Moskau. In einem Epilog auch um die von Moskau nach Tel Aviv, sowie die von Tel Aviv nach Berlin. Vermessen wir aber erstmal die Transitstrecke Berlin-Moskau, zeigen wir unbekannte Menschen zwischen den beiden Metropolen. Den Anfang machen deutsche Sozialisten, die nach der bolschewistischen Revolution in der UdSSR die Neue Welt aufbauen wollten. Den Abschluss bilden sowjetische Soldaten, die aus dem besiegten Deutschland etwas mit nach Hause brachten. (Zum Beispiel eine Spiegelablage.) Den Mittelteil der historischen Recherche bilden der NS-Terror und die stalinistischen Säuberungen. In den 1930-er Jahren hatten sich ca. 37.000 Politemigranten in Moskau niedergelassen; für Tausende wurde es zu einer Flucht in den Tod.
Es gibt drei mögliche Wege also, drei faktische Koffer / Taschen / Kisten. Darin befindet sich jeweils ein im Grunde wertloses Ding wie die Spiegelablage. Daraus entspinnen sich Dialoge, entwickeln sich Szenen. Der Inhalt der Kisten / Taschen / Koffer kann wohl sortiert oder wild hereingestopft sein: ein Spiegel der Menschen, der Umstände der Reise, des Aufbruchs, der Flucht. Ausgangspunkte sind reale Biographien und Dokumente; die Phantasie und das Spiel führen die Wege weiter.

Zwei Historiker*innen machen sich in Moskau und Berlin auf Spurensuche; assistiert von den beiden Schauspieler*innen, geleitet vom Dramaturgen und vom Regisseur. Es entsteht eine Verbindung von Wissenschaft und Kunst, von einer historischen Biographie zur Gestaltung einer dramatischen Figur, zum Körper als Archiv. Die Geschichtsrecherche generiert neue Stoffe für das Theater, das Spiel oszilliert zwischen Vergangenheit und Gegenwart, verschiedene Dinge des Lebens korrespondieren miteinander: Natalia Konradova kaufte sich in Berlin zu ihrer Moskauer Spiegelablage einen passenden Spiegel. Auf der Rückseite stand da: Berlin Potsd. Bhf. So fügen wir es auf der Bühne zueinander. Wir erzählen Moskau-Berliner Transitgeschichten in Berlin und Moskau, in russischer und deutscher Sprache. So hängt es zusammen: die Spiegelablage mit dem Spiegel, Moskau mit Berlin, Berlin mit Moskau; sogar Tel Aviv gehört dazu.

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VOR MOSKAU
Mikhail Kaluzhskys Tagebuch

Recherche-Theater-Projekt von Vajswerk Berlin und Sakharov Center Moskva
Projektleitung und Regie: Anastasia Patlay, Mikhail Kaluzhsky jun., Tina Heidborn, Christian Tietz

VOR MOSKAU ist unser Recherchestück zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion.
Mit dem Tagebuch eines Moskauer Musikers, der sich freiwillig zum Milizheer meldet, nehmen wir die 27 Millionen sowjetischer Opfer des NS-Vernichtungskrieges in den Blick. Mikhail Kaluzhsky und das Glinka-Quartett bieten die historisch-künstlerische Folie für das Leben und Sterben der Rotarmisten, der Kriegsgefangenen und der jüdischen Bevölkerung, der ‘slawischen Untermenschen’. Wir zeigen VOR MOSKAU als deutsch-russische Koproduktion unter freiem Himmel über Berlin und Moskau.

Bei dem Schlagwort „Vor Moskau“ sieht man gemeinhin deutsche Soldaten beim Vormarsch auf die sowjetische Hauptstadt. In unserem Recherchestück drehen wir die Perspektive um und schildern sowjetische Menschen, die ihre Stadt und ihr Land verteidigen und zu Millionen Opfern des Vernichtungskrieges im Osten werden.
Unser Moskauer Tagebuchautor ist Musiker, jüdischer Abstammung und freiwilliger Kämpfer der Roten Armee. Er meldet sich im Juni 1941 zum Milizheer und gibt während der ersten Luftangriffe auf Moskau noch Konzerte mit seinem Quartett; er kommt im Oktober zu seinem ersten Fronteinsatz.
In diesem dualistischen Spannungsfeld bewegt sich das Tagebuch, unser Stück: zwischen dem Musiker und Soldaten, den Zivilisten und Militärs, der Kunst und dem Krieg – und zwischen historischem Dokument und darstellerischem Spiel, Vermittlung von Wissen und Erzeugung von Empathie. In der Gegenwart eines Theaterabends geraten vor die Augen des Publikums Menschen, die zu potentiellen oder faktischen Opfern eines ideologischen und verbrecherischen Krieges werden. Das Tagebuch, der Autor und sein Cello, sein Schreiben und sein Spielen geleiten durch das Stück.
Mit dem kammermusikalischen Quartett zeigen wir exemplarische Biographien: Mikhail Kaluzhsky, eine Vertreterin der Stadt-, eine der Landbevölkerung und Abram Dyakov – sein Freund aus dem Konservatorium, der in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet und im Dulag 203 vermutlich als Jude und Politoffizier erschossen wurde. Zusätzliche Quellen werden herangezogen, kontextualisiert, dargestellt: von vier Schauspieler*innen und einem Musiker, einem russisch-israelischen und einem deutschem Regisseur, zwei Projektleiterinnen und Historikern aus Berlin und Moskau.

Die Basis der Inszenierung bildet das persönliche Tagebuch von Mikhail Kaluzhsky, geboren 1906 in Poltava und gestorben 1953 in Minsk. Der Cellist hat sein Leben lang Tagebuch geführt; unsere Stückauswahl umfasst die Zeitspanne vom Sommer 1941 bis zum ersten Kampfeinsatz im Herbst, aufgeschrieben im Lazarett im Winter 1941. Kaluzhsky stammte aus einer jüdisch-ukrainischen Familie und studierte am Moskauer Konservatorium. Er meldete sich umgehend zu den Selbstverteidigungskräften, die später in die Rote Armee eingegliedert wurden – er gehörte zu den wenigen Überlebenden seiner Einheit. In seinem Tagebuch geht er über sein eigenes Schicksal hinaus und erzählt von dem seiner Freunde, Bekannten und Verwandten, die als Juden, als kommunistische Kommissare und als Kriegsgefangene nicht überlebten. Seine Perspektive gleicht der der Inszenierung.

In seinem Tagebuch spricht der Autor mit sich selbst. Wir lassen ihn laut sprechen und hören und sehen ihm dabei zu. Der Autor scheint aus verschiedenen Personen zu bestehen: der Patriot, der unzureichend ausgebildete Soldat, der Künstler: diese nehmen im Spiel Gestalt an. Ebenso wie die Personen, von denen der Autor auch spricht, s.o. Aus den inneren Stimmen wird ein Chor, aus den Gestalten ein Ensemble – ein Quartett mit Solisten, mit tonangebendem Cello, das tatsächlich gespielt wird – ein Musiker gesellt sich zu den bilingualen Schauspieler*innen.