Julia ist Projektleiterin bei Vajswerk. Hier erzählt sie, wie sie durch einen Zufall von einer besonderen und persönlichen Geschichte erfuhr, die alles ins Rollen brachte. Es geht darum, wovon „Großes Kino DDR“ handelt und was Vajswerk für sie so besonders macht.
Alles begann im Herbst 2018, einen Monat vor der Premiere von “Tamara Bunke. Eine Heldin wird gemacht”, dem ersten Recherche-Theater-Stück, in welchem wir DDR-Geschichte erzählten. Für den intensiven Probenprozess des Stückes nahm ich mir einen Monat lang frei von meinem Hauptberuf und sprach mit einer ehemaligen Kollegin darüber. So lernte ich ihre Mutter kennen, die Theaterstücke und Romane zur DDR-Geschichte schreibt und die mir ihre persönliche Geschichte erzählte. Die Geschichte ihrer Mutter, die zu einer Hauptfigur unseres aktuellen Stückes über DDR-Geschichte wurde. Sie handelt von einer tödlichen Flucht, einer Liebe und einem Schützen, der am Ende verurteilt wird – Stoff, aus dem wir „Großes Kino“ machen wollten.
Im August 2019 stellten wir dann einen Förderantrag bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Im Dezember kam die Zusage, unsere Idee wird gefördert! Die Stiftung Berliner Mauer wird Kooperationspartner und die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde der passende Spielort. Das Ensemble – der Regisseur, die Autorin, zwei Historiker, drei Schauspieler*innen, der Musiker und ich – treffen oder sprechen uns regelmäßig. Später kommen der Pressevertreter und die Filmerin dazu.
Im Frühjahr 2019 das erste Treffen unseres Ensembles mit der Tochter, ein Jahr später, im Mai 2020, telefonieren wir zum ersten Mal mit ihrer Mutter Bettina. Schon nach dem ersten Telefongespräch habe ich das junge Mädchen von damals vor Augen, die ein verhältnismäßig „normales“ Leben in der DDR führte und zwischen die Fronten geriet. Sie und ihre Lebensgeschichte sind unser persönlicher Schlüssel zur größeren Geschichte über Flucht und Freiheit.
Einer geht. Eine bleibt. Einer schießt.
Einer, der geht: Am 5. Juni 1962 versucht Peter Reisch die Grenze im Harz zu überqueren und wird auf der Flucht in den Westen tödlich verwundet. Eine, die bleibt: Bettina, die in der DDR fest verwurzelt ist, gerät zwischen die Fronten als ein Brief, der an sie adressiert ist, in der Tasche des verwundeten Peter Reisch gefunden wird. Einer, der schießt: F. H. schießt auf Peter Reisch, wird zuerst ausgezeichnet, flieht dann in den Westen, wo ihm ein Jahr später der Prozess gemacht wird. Das Urteil gegen ihn wird zum ersten gegen die sogenannten Mauerschützen und soll ein Exempel statuieren. Der Tote, die Liebe, der Schütze – Einer geht. Eine bleibt. Einer schießt. Drei wahre Geschichten, die kaum zu glauben sind und aus denen unser Stück „Großes Kino DDR“ wurde.
Das Besondere an Vajswerk ist das Verbinden von Recherche und Theater, von Wissenschaft und Kunst. Also, dass das wirklich funktionieren kann, das fasziniert mich immer wieder, bei jedem neuen Projekt. Darin liegt aber auch die Herausforderung. Zu Beginn der Proben gibt es keinen fertigen Stücktext, den man lernen und proben kann, sondern Rechercheergebnisse, Archivfunde, Akten, Telefonate, Exkursionen, Dokumente, Geschriebenes, Interpretationen, die in einem intensiven, gemeinsamen Probenprozess mit allen ein Bild bzw. mehrere Bilder, verschiedene Geschichten, ergeben. Wir stellen die unterschiedlichen Erzählungen, Auslegungen, Interpretationen und Vereinnahmungen nebeneinander und gegeneinander, nähern uns den Figuren, die gleichzeitig beispielhaft für die größere Geschichte sind. Ich glaube, so kommen wir der „wahren Geschichte“, die so natürlich nicht existiert und sich auch nicht herausfinden lässt, sehr nah.
Für mich neu und besonders spannend an diesem Projekt ist der authentische Fall, zu dem wir einen persönlichen Bezug haben und den wir neu aufrollen können. Am meisten interessiert mich die Geschichte von Bettina. Peter Reisch wollte, dass sie nachkommt, wenn ihm die Flucht gelingt, sie war in all seine Pläne eingeweiht. Sie hatten eine Abmachung: „Wenn alles klappt, bleibt es bei unserer Verabredung“ stand in einem Brief an sie. Es gibt da drei Sätze, die mir aus den Gesprächen mit Bettina in Erinnerung geblieben sind, weil sie so deutlich zeigen, was für wahrscheinlich viele Menschen die DDR war. Und weil sie das Narrativ, dass man die Freiheit nur im Westen finde, bricht: „Ich wollte gar nicht rüber.“ (…) „Ich habe das einfach gelebt, die DDR-Realität.“ (…) „Wir durften doch alles.“
Vorhang auf für „Großes Kino DDR“!
Über mich
Mein Name ist Julia Jägle, ich habe Kunst-, Wissenschaftsgeschichte und Öko-Agrarmanagement in Berlin und Eberswalde studiert und beschäftige mich mit Nachhaltigkeitsfragen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik. In den Recherchetheater-Projekten von Vajswerk kann ich meine Leidenschaft für Wissenschaft und Theater miteinander verbinden. Wie DDR-Geschichte erzählt werden kann oder vielmehr, wie die Geschichte viele Jahre erzählt wurde und lange Zeit auch mein Bild der DDR prägte, hat mich das erste Mal vor drei Jahren bei unserer Arbeit zu „Tamara Bunke. Eine Heldin wird gemacht“ beschäftigt.
In unserem aktuellen Stück „Großes Kino DDR“ behalte ich den Überblick, bevor das Projekt startet, sobald es läuft und wenn die Aufführungen vorüber sind, vor allem über Zahlen, Berichte oder Anträge. Momentan kümmere ich mich um die Mittel, die Kommunikation mit unserem Förderer und allgemeine organisatorische Dinge.
Hier geht es zu den anderen Blogeinträgen: Projekt im Prozess – Großes Kino DDR.
VVK unter info[at]vajswerk.de. Eintritt: 10/7€.