Gerade bereitet sich Charles auf die Darstellung des Grenzsoldaten F.H. vor. Hier beschreibt er seine Gratwanderung zwischen Identifikation und Distanz zum Todesschützen.
„Schießen Sie!“, heißt es an einer Stelle meines Textes.
In “Großes Kino DDR” zeichne ich verantwortlich für die Rolle des Grenzsoldaten, der in dieser Passage aus der Point-of-View-Perspektive berichtet, wie er einen Grenzdurchbruch verhinderte.
Warum schoss er nicht daneben?
Was bewog den damals einundzwanzigjährigen Grenzer, auf einen Gleichaltrigen zu schießen? Außer Reißaus zu nehmen und der DDR buchstäblich den Rücken zuzukehren, hatte sich Peter Reisch nichts “zu Schulden kommen lassen”. Warum also schoss F.H. und warum nicht einfach daneben? Mitten auf weiter Flur wäre das doch kein Problem gewesen.
Können wir heute die Tat aus dem Gehorsam gegenüber seinem Vorgesetzten oder aus Loyalität gegenüber der Partei erklären? Aus Angst vor Sanktionen? Ist F.H. als „Prototyp des gedankenlosen, willigen Befehlsempfängers“ zu begreifen, wie es in seiner Prozessakte heißt? Wollte er neben seiner ausgewiesenen Treffsicherheit weitere soldatische Tugenden wie die Bereitschaft zu töten unter Beweis stellen? Sich selbst und seinen Kameraden gegenüber? Dass F.H. ein halbes Jahr später trotz Auszeichnung und Beförderung der DDR den Rücken kehrt und per Ski in den Westen gleitet, lässt aufhorchen.
Die Frage „Warum hat er geschossen?“ stand für mich zu Beginn meiner Beschäftigung mit F.H. im Vordergrund. An diese Ausgangsfrage schlossen sich eine Reihe weiterer Fragen an. Während in der Produktion „Tamara Bunke. Eine Heldin wird gemacht.“, die sich ebenfalls mit DDR-Geschichte beschäftigt, meine Rolle/Figur allegorisch stand für jene, die unter dem Regime unter die Räder kamen, repräsentiere ich dieses Mal kein Opfer, sondern einen Täter.
Zusammenfügen der quellenbasierten Puzzleteile
Für „Tamara Bunke. Eine Heldin wird gemacht.“ generierte ich den Figurentext hauptsächlich aus geführten Interviews mit Zeitzeug*innen. Bei „Großes Kino DDR“ rekurriert mein Rollen-Ich auf einen historischen Fall und damit auf eine tatsächliche Biografie. Das Besondere dieser Stückentwicklung liegt im Austausch von Historiker*innen und Darsteller*innen. Gemeinsam versuchen wir die quellenbasierten Puzzleteile zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Erst gestern Abend sprach ich mit Mirko, einem der beiden Historiker, darüber, inwieweit wir das Handeln des Schützen nicht auch als einen Fall von toxischer Männlichkeit einordnen können.
Auch wenn die Auswertung und Interpretation des uns zur Verfügung stehenden Materials noch nicht beendet ist, geht es für mich als Darsteller momentan vor allem um das „Wie“. Wie erzähle ich von den Geschehnissen des 05.06.1962 heute? In welches Licht stellt F.H. seine Tat? Gebrochen? Geläutert? Mit einer Portion Stolz?
Neben dem Erschaffen einer innerlichen Figurenwelt – das ist, was mich momentan am meisten umtreibt – betrifft das „Wie“ zusätzlich auch die Wahl formal-ästhetischer Darstellungsmittel. Wie sehr identifiziere ich mich als Performer mit der Rolle, wie viel Distanz behalte ich? Bei Vajswerk geht es nicht darum, ein historisch-authentisches Double des ehemaligen Grenzsoldaten auf die Bühne zu bringen. Es ist weder mein Anliegen zu behaupten: genauso hat es sich zugetragen, noch: genauso so müsst ihr ihn euch vorstellen.
Für mich liegt der vajswerk‘sche Reiz darin, einen Text, ein Stück, eine Inszenierung ausgehend von historischen Quellen und der Beschäftigung mit einer Biografie zu entwickeln. Die Geschichten der Personen, die ich in den vergangenen Jahren mit der vajswerk‘schen Lupe betrachtet habe, waren oft randständige, wenig bekannte, von der Allgemeinheit liegengelassene oder in Vergessenheit geratene. Dafür habe ich, haben wir meist einen Blick auf vergangene Ereignisse und ‚Schicksale‘ geworfen.
Schaue ich heute aus meinem Neuköllner Fenster, lese ich auf einem leicht verblassten Transparent, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einen Balkon geknotet ist, den Aufruf: Stoppt das Töten an den EU-Außengrenzen. Selbstverständlich ist die Situation an der innerdeutschen Grenze von damals eine andere als die gegenwärtige im Mittelmeer. Meine historische Figur wurde für die Vernichtung eines Feindes (sic!) ausgezeichnet und bekam 200 Mark obendrein. Welche Boni Frontex-Beamte bekommen, wenn sie Flüchtende daran hindern, europäischen Boden zu betreten – indem sie ihnen Trinkwasser abnehmen, Motoren von Schlauchbooten entfernen und Hilfesuchende zur Rückkehr zwingen – steht auf einem anderen Blatt. Entmenschlichend, würdelos und tödlich bleibt es trotz geänderter Vorzeichen.
Über mich
Mein Name ist Charles Toulouse. Die Schauspielausbildung erhielt ich an der Folkwang Universität in Essen mit Schwerpunkt Physical Theatre. Anschließend folgten mehrjährige Engagements am Jungen Staatstheater Wiesbaden und dem Landestheater Marburg. Heute lebe und arbeite ich seit sieben Jahren freischaffend in Berlin. In dieser Zeit war ich nicht nur an zahlreichen Vajswerk-Projekten auf und hinter der Bühne beteiligt, sondern stand für Film, Fernsehen und Commercials vor der Kamera.
Hier geht es zu den anderen Blogeinträgen: Projekt im Prozess – Großes Kino DDR.
VVK unter info[at]vajswerk.de. Eintritt: 10/7€.