NOCH SO JUNG, IM SOMMER 1962, ALS EINER GEHT, EINE BLEIBT, EINER SCHIESST.

Im Sommer 1962 waren sie 18, 19 und 21 Jahre alt. Als er weg wollte, von einem Deutschland ins andere. Als sie bleiben wollte; in der DDR war doch ihr Zuhause. Als ein Grenzsoldat dem Schießbefehl gehorchte und eine Flucht-, eine Lebens-, eine Liebesgeschichte beendete.

Diese Geschichte – die aus vielen Geschichten besteht – hat sich wirklich zugetragen. Sie spielt in einer kleinen Stadt bei Magdeburg, in Berlin vor und nach dem Mauerbau, im Harz, wo die Grenzanlagen doch noch nicht fest ausgebaut waren, es auf den einzelnen Menschen ankam. Und in Stuttgart, wo 1963 dem Todesschützen der Prozess gemacht wurde – ihm war nämlich die Flucht in den Westen geglückt. Noch so eine Geschichte.

Die Geschichte findet sich in den Erzählungen von Menschen, die Peter Reisch und Bettina Bönicke gekannt haben und in Archiven, in den Aussagen vor Gericht. Fritz H. will heute nicht darüber sprechen: „Die Sache ist erledigt.“ Ist sie das?

2020 hat das Recherchetheater Vajswerk die Geschichte erforscht und dargestellt – in den drei unterschiedlichen Perspektiven: Großes Kino DDR wird seit fünf Jahren immer wieder gespielt, deutschlandweit.

In 2026 werden nun Jugendliche ihre eigene Version der Geschichte erzählen. Sie machen sich auf Spurensuche, fahren nach Egeln, wo die Geschichte begann und nach Schierke, wo sie endete. Dabei kommen sie mit Zeitzeugen ins Gespräch und setzen mit Zeitzeugnissen ihr eigenes Stück zusammen – in ihrer ureigenen Form. Und zwar wie? Bitte schön: Dies ist eine Einladung zum Mitmachen!  Es werden noch Schulen oder Jugendeinrichtungen als Kooperationspartner gesucht; die Projektbeschreibung gibt es hier.

Wir werden erzählen, wie die Geschichte weitergeht!

  

Das Projekt wird gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Bundesprogramm „Jugend erinnert“, der Förderlinie SED-Unrecht, und der Bundesstiftung Aufarbeitung.

Foto: Das Gespräch mit Jugendlichen nach einer Aufführung von „Großes Kino DDR“ im Sommer 2025.

MIKROKOSMOS 1990

Das Jahr 1990 ist der Kern von Vajswerks neuer Erzählung der DDR-Geschichte. 2025 ist ein Jubiläumsjahr, viele werden sprechen. Alle wissen Bescheid, irgendwie, die einen werden ihr Erbe pflegen, die anderen ihre Wunden zeigen, Sonntagsreden werden gehalten; die meisten werden schweigen, gar nicht merken, dass unsere (gesamtdeutsche) Gegenwart vor 35 Jahren begann. Vajswerks Mikrokosmos 1990. Ende und Anfang eines Landes richtet sich sehr wohl an diejenigen, die damals dabei waren, aber vor allem an die Menschen, die dafür zu jung waren, so jung sind, wie die handelnden Personen im Recherche-Theater-Stück:

Vier junge Menschen stehen auf der Bühne, sie kommen aus vier Städten der DDR, es ist das Jahr 1990. Ja, sie kommen aus Leipzig und der Hauptstadt der DDR, aber auch aus Hoyerswerda und aus Wismar, auf dem Weg nach Rostock. Jede und jeder der Vier steht für ihre und seine Stadt; wenn sie Verstärkung brauchen, kommen die anderen hinzu. Das Publikum schaut auf jede einzelne Stadt und auf die ganze Republik, im Laufe eines Jahres. – Die Vier sind Schauspieler:innen, zu ihnen gehören vier Historiker:innen. Die Wissenschaftler:innen und die Künstler:innen recherchieren gemeinsam; im mehrmonatigen Arbeitsprozess entsteht ein multi-perspektivisches Theaterstück.

Die handelnden Personen kommen natürlich aus dem Jahr 1989. Sie haben die Massenproteste, die Staatskrise, den Beginn einer Revolution erlebt, sie haben eingegriffen oder einfach beobachtet. Wie geht jetzt – im Jahr 1990 – alles weiter – alles zuende? War das eigene Land, das sich endlich neu zeigte, so jung wie man selbst, plötzlich schon wieder alt? Bleibt einem nur die individuelle Freiheit und die Politik überlässt man jenen, die bald zu „denen da oben“ werden?

So erzählt Vajswerks Projekt auch von unserer Zeit. Mit der Zeit von damals, mittels einzelner Biografien, denen wir durch das Jahr folgen, in dem Deutschland eins wurde und sich in der Interpretation der Geschichte uneins bleibt.

Von und/oder mit Linda Fülle, Laura Mitzkus, Ulrike Müller/Greta Galisch de Palma, Stephan Thiel/Daniel-Frantisek Kamen; Maxie Jost, Katja Lehmann, Stefan Paul-Jacobs, Christian Tietz.

Die beiden Werkstattaufführungen in Berlin waren am 9. Juli im Theater unterm Dach und am 10. Juli im Haus der Jugend Zehlendorf. – Im Oktober (und Februar 2026) geht es an alle vier Orte des Mikrokosmos 1990: Berlin 09.10. Theater unterm DachRostock 10.10. Theater FreigeisterHoyerswerda 21.02.26 Stadtmuseum im SchlossLeipzig 14.10. Ost-Passage Theater – in Kooperation mit der Deutschen Nationalbibliothek. Einen Einblick in den Arbeitsprozess und das Bühnengeschehen geben Deutschlandfunk Kultur und radio3 und ein Gespräch auf RadioBlau sowie unser Hörstück, seit 3.10. on air:

Den Flyer gibt es hier.

Das Projekt wird gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung Aufarbeitung.

 

KÄTE LASERSTEIN 125

Käte Laserstein begleitet uns – auf gewisse Weise – seit 2019: seit unserem ersten Rechercheprojekt an ihrer ehemaligen Schule. Vajswerks Projektreihe galt ihr und ihrer Schwester, der Malerin Lotte Laserstein, sowie ihren Freundinnen Rose Ollendorff und Lucie Friedlaender, die mit ihr die NS-Verfolgung überlebten, als auch ihren Schüler:innen und Kolleg:innen an der Gertraudenschule im West-Berlin der 1950er Jahre.

2025 begehen wir Käte Lasersteins 125. Geburtstag. Am 27. Mai trafen wir uns am Morgen in der heutigen Halvorsen Schule und am Abend im heutigen Martin-Niemöller-Haus. Beim Gartennachbarn der ehemaligen Gertraudenschule hörten wir Käte Laserstein: in ihrer Schriftsprache und der Stimmen derjenigen, die dieses oder jenes Zitat auswählten und erzählten, warum. Die Liste der 25 Zitate gibt es hier.

Der Geburtstag begann aber schon früh in der Schulaula, wo wir zunächst dem Kalenderblatt lauschten, dem Beitrag des Deutschlandfunks über Käte Laserstein. Anschließend bestückten Schülerinnen der 9er-Kunstklasse eine Zeitkapsel, die in vier Jahren von der neuen 9er-Kunstklasse geöffnet wird.

Darüberhinaus hat eine Projektidee von Halvorsen und Vajswerk den Inge-Deutschkron-Preis erhalten. Mehrere Videoclips in der individuellen Auseinandersetzung mit der historischen Figur sind entstanden: „Käte Laserstein und ich.“ Das Projekt hat nach den Berliner Sommerferien begonnen und wird von einem Parallelprojekt zum gegenwärtigen Antisemitismus begleitet. Die Projektergebnisse wurden am 20. November in der Aula der Halvorsen Schule gezeigt.

27. Mai 2025: 09:05 im Deutschlandfunk das Kalenderblatt & 09:10 in der Aula der Gail S. Halvorsen Schule die Zeitkapsel & 19:00 im Martin-Niemöller-Haus die Geburtstagsfeier.

21. Juli 2025: Preisverleihung im Max-Liebermann-Haus: Inge-Deutschkron-Preis für „Käte Laserstein und ich“ – im September 2025 erfolgt der Projektstart.

20. November 2025: Präsentation zum Inge-Deutschkron-Preis um 18 Uhr in der Aula der Halvorsen Schule.

 

 

Bild oben: „Denk an mich“, Käte Laserstein am 27.12.1962 an Lotte Laserstein

LASERSTEIN-REIHE

Vajswerks Laserstein-Reihe begann mit der Lotte Laserstein Ausstellung in der Berlinischen Galerie 2019, mit einem Kunstkurs der Halvorsen Schule, der ehemaligen Gertraudenschule, der Schule Käte Lasersteins. Die Schüler:innen gingen in die Ausstellung, malten an ihren Laserstein-Bildern, besuchten das Berliner Landesarchiv, hörten eine Laserstein-Schülerin über ihre Lehrerin berichten. Bei den Aufführungen von Die zwei Schwestern Laserstein befand sich an einem Ende der Aula die Schultafel, am anderen das Atelier mit Lasersteins Bildern.

In Lasersteins Orte 1&2 zogen zwei Schauspielerinnen mit vielen Briefen an die erste und letzte Adresse der Lasersteins in Berlin, vor die Stierstraße 19 und den Immenweg 7. Laserstein Ollendorff (Friedlaender) untersuchte in vier Projektformaten das Überleben dreier Frauen an geheimen Orten. Ein Kapitel West-Berliner Demokratiegeschichte wurde mit Käte Laserstein und ihren Schüler:innen in Gertraudens Kinder erzählt. – Den Abschluss der Reihe bildete zurück.bleiben mit dem Jahr 1954 als Ausgangspunkt, mit der Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren bzw. in Schweden, im Exil zu bleiben – uraufgeführt im Sommer 2024 im Garten und im Haus der Wannsee-Konferenz. – Mit dem Blick auf den Kalender fand die Reihe aber doch noch eine Fortsetzung: mit dem 125. Geburtstag von Käte Laserstein am 27. Mai 2025: mit tatsächlich vier Projekten, wovon eines den Inge-Deutschkron-Preis erhielt. 

Es entstanden u.a. Theaterstücke, Podcasts, ein Essay, eine Masterarbeit, eine Unterrichtsstunde zum Nachspielen und eine Lesemappe im Rahmen der Wanderausstellung ‚gefährdet leben‘, die 2023 im Deutschen Bundestag eröffnet wurde. – Hier eine Übersicht:

01: Schülerinnen und Schüler eines Kunstkurses der Gail S. Halvorsen Schule spielen Theaterszenen zum Abschluss ihres Projektunterrichts.

02: Zwei Schauspielerinnen stehen am Immenweg 7 und erkunden mittels Briefen einen der ‚Lasersteins Orte‘ – nachzuhören im Podcast.

03: Podcast-Folge 1 zu ‚Laserstein Ollendorff (Friedlaender)‘: Die Recherche

04: Folge 2: Die Biografien

05: Folge 3: Die Ergebnisse

06: Die Kurzbiografien von Käte Laserstein, Rose Ollendorff und Lucie Friedlaender

07: Der Podcast zu ‚Gertraudens Kinder‘: eine West-Berliner Schule im Nachkrieg

08: Die Radiosendung zu ‚Gertraudens Kinder‘

09: Der Essay zur West-Berliner Demokratiegeschichte anhand der Gertraudenschule

10: Die Masterarbeit zu den Briefen von Käte Laserstein an ihre Schwester

11: Die Lesemappe zu Käte Laserstein in der Ausstellung gefährdet leben

12: Die Geschichtstheaterstunde zum Nachspielen, zu Käte Laserstein

13: Das Interview in nd/Die Woche in der Vorbereitung auf ‚zurück.bleiben‘

14: Der Podcast von ‚zurück.bleiben‘ auf Soundcloud und Spotify

15: Ein Beitrag über Vajswerks Laserstein-Reihe erschien in der Herbstausgabe von Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung

16: Am 18. November 2024 wurden auf Initiative der Markus-Gemeinde neben dem Stolperstein in Gedenken an Meta Laserstein zwei weitere verlegt: zu Käte Laserstein und Rose Ollendorff.

17: Am 27. Mai 2025 – ja – feierten wir Käte Laserstein 125; zwei weitere Projekte schließen sich an, im Herbst 2025. Nachzuhören wäre das Kalenderblatt des Deutschlandfunks.

OKTOBERFRÜHLING

Erinnert man heute an die Friedliche Revolution von 1989, denkt man meist an die Massenproteste in Leipzig und Berlin. Übersehen wird dabei, dass sich die Sprengkraft der Revolution, die das Ende der DDR einleitete, überall im Land entfaltete. Wie flächendeckend die Revolution das Land erfasste, wird deutlich, wenn man sich die Zahl der Orte vergegenwärtigt, in denen schon vor dem Mauerfall demonstriert wurde: mehr als 325, von der Ostsee bis in die Sächsische Schweiz.

So vielfältig wie die Orte sind auch die Ausdrucksformen des Widerstands. Ein Ärzteehepaar vom Müritzsee fährt mit einem Plakat in der Heckscheibe seines PKWs umher und verkündet darauf: „Wir lieben unsere Heimat grenzenlos“; die Freiwillige Feuerwehr Plauen wehrt sich gegen den Einsatz ihrer Tanklöschfahrzeuge als Wasserwerfer gegen friedlich Demonstrierende; bei einer Gesprächsrunde am Theater Rudolstadt übt man sich darin, die eigene Meinung öffentlich kundzutun und in Kühlungsborn kommt es zu einer „Ein-Mann-Demonstration“.

Alles findet gleichzeitig statt, alles geht rasend schnell – einiges auch zu schnell. Erst gärt der Frust über den „Kalk der Fünfziger Jahre“ in den Menschen, dann formiert sich Widerstand. Die Mauer fällt. Es ist ein Wunder, dass alles friedlich bleibt. Aber die begehrten 100 D-Mark Begrüßungsgeld gibt es für Ostdeutsche, aber nicht für den Vertragsarbeiter aus Mosambik. Während einige Oppositionelle nach einem dritten Weg zwischen BRD-Kapitalismus und DDR-Sozialismus suchen, vernichtet die Stasi brisante Akten und setzen sich SED-Funktionäre ins Ausland ab.

Die szenische Lesung montiert historische Quellen und Zeitzeugenberichte zu einem Kaleidoskop der Friedlichen Revolution.

Mit: Daniel-Frantisek Kamen, Hannah Kobitzsch, Stephan Thiel und Anne Greta Weber. Regie&Spielfassung: Katja Lehmann – auf Basis der Recherche von Stefan Paul-Jacobs.            Foto © Bundesstiftung Aufarbeitung.

Nach der Uraufführung bei der Zeitgeschichtlichen Sommernacht der Bundesstifung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (am 10. Juli im Silent Green) war Oktoberfrühling zweimal im Theater unterm Dach zu sehen, am 12&13. Oktober. Anschließend ging das Stück auf Tour* und war in Waren (16.10.), Rostock (17.10.), Bützow (7.11.), Hohen Neuendorf (8.11.), Berlin (9.11.), Wismar (18.11.) zu sehen. In 2025 stand die szenische Lesung am 2. März erneut auf dem Spielplan des Berliner Theater unterm Dach.

* 16.10. 18:30: Waren: St. Georgen Kirche, Sankt-Georgen-Kirchplatz 1 — 17.10. 19:00: Rostock: Petrikirche, Alter Markt 1 — 7.11. 19:30: Bützow: Rathaus Bützow, Am Markt 1 — 8.11. 19:00: Hohen Neuendorf, Ratssaal, Oranienburger Str.2 — Berlin, „Fest der Freiheit“, ab 14:00 — 18.11. 19:00: Wismar: Stadtbibliothek, Ulmenstraße 15

ZURÜCK.BLEIBEN

Käte geht zurück, Lotte bleibt. Das ist unser Stück. Es ist das Jahr 1954; wir sind in Stockholm. 1946 hatte Käte Laserstein Berlin und Deutschland verlassen und war zu ihrer Schwester nach Schweden gegangen – gezogen, geflohen? Lotte Laserstein hatte ihrerseits 1937 eine Ausstellung nutzen und ihr Werk und ihr Leben retten können. Käte überlebte mit zwei Freundinnen zuletzt in einer Laubenkolonie in Schmargendorf. Die Mutter – Meta Laserstein – wurde 1943 im KZ Ravensbrück ermordet. Das nahm Käte Laserstein mit nach Schweden; acht Jahre später ging sie zurück nach Deutschland und wurde wieder Lehrerin an einer Berliner Schule. Warum? Lotte blieb. Warum? Davon erzählt zurück.bleiben: Lotte und Käte Laserstein zwischen Verfolgung, Exil und Selbstbestimmung, Schweden und Deutschland.

zurück.bleiben ist der Abschluss von Vajswerks Laserstein-Reihe. Sie begann 2019 mit Die zwei Schwestern Laserstein, wurde 2021 mit Lasersteins Orte und 2022 mit Laserstein Ollendorff (Friedlaender) fortgesetzt. 2023 weiterte sich der Blick auf Gertraudens Kinder, während parallel für die Wanderausstellung – gefährdet leben wurde am 29.11.23 im Bundestag eröffnet – eine Lesemappe zu Käte Laserstein entstand.

zurück.bleiben recherchieren und spielen Laura Mitzkus und Charlotta Bjelfvenstam; für Dramaturgie und/oder Regie stehen Anna Carola Krausse und Christian Tietz. Assistenz: Clara Escalera.

zurück.bleiben wurde am 14. Juli 2024 im Garten und im Haus der Wannsee-Konfernz uraufgeführt. – Im Oktober 2024 boten wir drei Zusatzvorstellungen an,  wieder in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz;  den Flyer gibt es hier und der  Podcast  ist auf Soudcloud und Spotify zu hören.

Zuvor waren wir in Stockholm und  präsentieren unser Projekt på svenska: onsdag, 6/3 kl. 19 på Hjorthagens Kulturhus. Die Berliner Auftaktveranstaltung war am 18.04., 18 Uhr im Haus der Wannsee-Konferenz.

Fotos © Lena Obst

 

 

 

DER WEG ZUM GÜTERBAHNHOF MOABIT

Es geschah am hellichten Tag; vor aller Augen. Mitten in der Stadt. Quer durch Moabit gingen Gruppen von Menschen, von bewaffneten Menschen bewacht. Andere Menschen schauten zu, oder weg. Sie wussten, wer da ging; die Abgeführten trugen einen Judenstern, wohnten auch nebenan. Sie wussten, wohin sie gingen, zum Güterbahnhof Moabit, zu den Gleisen südlich des Westhafens und der Ringbahn, an der Putlitzbrücke. Wohin fuhren die Personenzüge, Güterzüge, Viehwaggons? „In den Osten.“ In den Tod.

Die Zahl ist groß und abstrakt, rund 30.000 Jüdinnen und Juden wurden 1942-44 von dort aus Berlin vertrieben; der Güterbahnhof Moabit wurde zum größten Deportationsbahnhof der Reichshauptstadt.

Wir gehen diesen Weg nach, von der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße zum ehemaligen Güterbahnhof Moabit, dem dortigen Gedenkort. Am Anfang und am Ende gibt es biografische Stationen, an denen wir Menschen* begegnen. Dies gestalten wir selbst – in einem Geschichtsprojekt mit Jugendlichen des Felix Mendelssohn-Bartholdy Gymnasiums.

* Die Schüler:innen beschäftigten sich mit 33 Lebensgeschichten: mit Heinz Behrendt/Chaim Baram – Walter Besser – Familie Brann – Edith Dietz – Ellen Epstein – Hertha Feiner – Familie Fichtmann – Hildegard Henschel – Rolf J. – Jacob Jacobsen – Joel König/Ezra Ben Gershom – Gertrud Kolmar – Familie Kuhn – Familie Lichtwitz – Liane Lea und Willy Löw – Martha Mosse – Camillla Neumann – Henni Noack – Herman O. und Herta Pineas – Hans R. – Alfred Rosenthal – Gert Rosenthal – Berthold Rudner – Marion Samuel – Harry Schnapp – Jizak Schwersenz – Bertha Steinhardt  und ihrer Schwester Hilde Miron – Ulse Ury und Margot Wolf – sowie dem Gestapobeamten  und Mitglied einer Einsatzgruppe Max Kölz.

Die Projektpräsentation fand statt am Freitag, 19. April 2024; um 16 Uhr  trafen wir uns an der Ecke Levetzowstraße/Jagowstraße und gingen dann bis zum Gedenkort Güterbahnhof Moabit, begleitet mit den Nachrichten von 33 Schüler:innen an ihre historische Figur.

Unser Projekt war auch Teil des Jugendforums denk!mal25, dessen Ausstellung am 28. Januar 2025 eröffnet wurde und bis zum 20. Februar 2025 im Berliner Abgeordnetenhaus zu sehen war.

Bilder von der Ausstellungseröffnung und vom Gedenkort:

Blick von der Putlitzbrücke: links der S-Bahnhof Westhafen, entfernt an den rechten Gleisen der Gedenkort Güterbahnhof Moabit, Februar 2025.

WAS DENN SCHIEFE BAHN

Was denn, was denn, was gibt’s denn, was ist denn? Schief? Eine Bahn? Der gerade Weg des Lebens? Gibt es den, wollen wir den? Und wenn, wenn wir den verlassen, kommen wir nicht wieder auf ihn zurück? Und die schiefe Bahn führt uns geradewegs in den Abgrund? – Sind das nur Sprüche, Worte von Vorgestern? Aber es gibt sie ja, diese Straftaten, also die sichtbare Kriminalität, von Jugendlichen. Die findet sich wieder in Gangsterraps, Instaposts, Politikertweets, Zeitungsschlagzeilen, in Urteilen des Jugendgerichts. Das Jugendstrafrecht trat übrigens vor hundert und einem Jahr in Kraft, 1923.

Wir machen uns heute auf die Spur – nach den Jugendlichen, von denen wir erstmal nur die Gerichtsurteile kennen. Dann kommen die Geschichten. Allmählich entsteht ein Mensch. – Was wissen wir, wie nah können wir einem Anderen kommen; was sind unsere Vorurteile, was erzählen wir von uns selbst?

Was denn schiefe Bahn?! ist eine Jugend-Recherche-Theater-Musik-Kunst-Performance über Straffälligkeit – und den Menschen, die dahinter stecken. – Es spielen Jugendliche der Gail S. Halvorsen Schule im Verbund mit einer Aktionskünstlerin, einer Schauspielerin, einem Schauspieler und einem Regisseur – von Vajswerk.

Unsere erste Vorstellung fand statt am 1. Februar 2024 im Haus der Jugend Zehlendorf. Die zweite Runde des Projekts erlebte am 30. Januar 2025 seine Uraufführung. Den Flyer gibt es hier.  – Das Projekt wurde gefördert mit Mitteln des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf / Jugendamt.

Fotos vom Februar 2024 und vom Januar 2025 (die 2025er gibt es auch als PDF):

GERTRAUDENS KINDER

Gertraudens Kinder zeigt ein Berliner Mädchengymnasium im Nachkrieg, so der Untertitel. Es handelt sich dabei um die heutige Halvorsen-, die damalige Gertrauden-Schule und die ersten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, dem Nationalsozialismus. Das Projekt hat Käte Laserstein als Fixstern; sie war Lehrerin in Dahlem, sie versuchte – nach den Jahren der Verfolgung als Jüdin – wieder in ihren Beruf zurückzukehren. „Ich höre und lese immer wieder, dass die Opfer Hitlers an erster Stelle beschäftigt werden sollen. Ich bin es jedenfalls nicht“, schreibt sie im September 1945. „Man sucht Erzieher im neuen (d.h. alten und ewigen) Sinne, doch man findet sie nicht, wenn sie sich anbieten.“

Von Käte Laserstein – und Vajswerks Vorgängerprojekten, s.u. – gehen wir aus, auf sie nehmen wir immer wieder Bezug. Dabei geht es grundsätzlich um den zitierten Sinn – der Erziehung nach der NS-Zeit, zu einem demokratischen Deutschland. Wie gestaltete sich der Unterricht, wer waren die Schülerinnen und Schihüler, wer saß im Kollegium, wie war das Spannungsfeld zwischen Restauration und Neuanfang? Das untersuchen wir am konkreten Beispiel und machen daraus eine allgemeine Geschichte. So beginnen wir in der Schule, befragen ehemalige Schüler:innen, lesen Konferenzprotokolle und Schülerzeitungen, entwickeln mit heutigen Schüler:innen eine Unterrichtsstunde und ein Klassenzimmerstück … und gehen dann über Dahlem hinaus und präsentieren einem breiten Publikum unseren neuen Podcast, in dem das Projekt und die Geschichte nachzuhören sein wird, am 30. Nov. 2023 im Haus der Jugend Zehlendorf.

Das Hörstück ist nachzuhören auf Soundcloud und  Spotify, sowie in einer 2.Fassung in der Andere-Stimmen-hören-Weihnachtssendung auf Radio Orange. Den Essay „Erziehung zur Demokratie? Die West-Berliner Gertraudenschule in den fünfziger Jahren“ gibt es hier, die Geschichtstheaterstunde hier, sowie den Flyer  hier.

Am 29. November wurde übrigens im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages die Wanderausstellung  „gefährdet leben. Queere Menschen 1933-1945“ eröffnet. Von Vajswerk stammen die Texte und Dokumente in der Lesemappe zu Käte Laserstein – diese Lesemappe gibt es hier als PDF.

Mit Gertraudens Kinder. Ein Berliner Mädchengymnasium im Nachkrieg setzt Vajswerk seine Laserstein-Recherche fort. Nach Die zwei Schwestern Laserstein 2019, folgten 2021 Lasersteins Orte und Laserstein Ollendorff (Friedlaender) 2022.

Gertraudens Kinder wurde finanziert aus Mitteln der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa für die Förderung zeitgeschichtlicher und erinnerungskultureller Projekte.

 

 

 

Fotos von © Lena Obst von der Abschlussveranstaltung am 30.11.23 im Haus der Jugend Zehlendorf.

#geschichte_schreiben

Wir stellen uns etwas vor, was es so nicht gibt: zum Tag der Europäischen Erinnerungskultur lädt der Verein für Völkerverständigung zu einem Symposion. Man erwartet sich Impulsreferate unter dem schlichten Titel „Ein Land und seine Verantwortung vor der Geschichte.“ Vier Universitätsdozent:innen werden in Berlin erwartet: vom Südeuropa-Institut, vom Südosteuropa-Institut, vom Nordeuropa-Institut und vom Institut für Germanistische Studien. Die vier Vortragenden beginnen staatstragend, mit der offiziellen Geschichtsschreibung, zum Mitschreiben. Dann melden sich Stimmen, die das jeweilige Geschichtsbild verrücken, es aus dem Rahmen treten lassen. Es gibt sie ja nicht, die Eine Erzählung, die Eine Position, Perspektive.

Das Recherchekollektiv Vajswerk zeichnet sich seit sieben Jahren durch Projekte aus, in denen Geschichte erforscht und dargestellt wird, multi-perspektivisch. Mit #geschichte_schreiben wird nun die Probe auf das Exempel gemacht: wie aus Geschichte Politik wird, wie manche Ereignisse für das historische Gedächtnis konstitutiv und manche verworfen, „vergessen“ werden. Im Zusammenspiel mit vier Historiker:innen verfolgen vier Schauspieler:innen geschichtspolitische Diskurse in Europa und laden Ende April 2023 zu einem fiktiven Symposion, zu einem richtigen Theaterabend: im historischen Saal der deutschen Kapitulation 1945, im heutigen Museum Berlin-Karlshorst.

Mit: Ines Miro, Laura Mitzkus, Christian Erdt, Charles Toulouse; Dr. Ursula Rütten, Hanna Sjöberg, Stefan Paul Jacobs, Dr. Lucas Hardt; Felicitas Braun, Renske de Vries, Christian Tietz. – Foto von Lena Obst ©

Uraufführung am 22. April 2023; weitere Aufführungen am 23./29./30. 04; 19 Uhr im Museum Berlin-Karlshorst.

Den Flyer gibt es hier und die Pressemappe hier; die Texte der Expert:innen können hier eingesehen werden. Begleitend entstand dieser 6-teilige Podcast, nachzuhören auf Soundcloud:

 

 

 

#geschichte_schreiben wird gefördert durch den Fonds Darstellende Künste im Rahmen von „Neustart Kultur“ sowie der LIRI-Stiftung.

 

Fotos von Lena Obst ©