Das Ende aller Liebeslieder

Schlager aus den 1950er- und 1960er-Jahren als weitere Schlüssel zu den Protagonist*innen des Theaterstücks? Bei der Auswahl und Gestaltung der Musik für „Großes Kino DDR“ war für Markus von Schwerin ein rund einstündiges Telefonat mit Bettina ebenso bedeutend wie der gemeinsame Austausch mit den Schauspieler*innen beim Einstudieren der für sie vorgesehenen Stücke.

„Tamara Bunke. Eine Heldin wird gemacht“ war die erste Vajswerk-Inszenierung, an der ich mitgewirkt hatte. Als sich nach den Wiederaufnahme-Vorstellungen Anfang 2020 herausstellte, dass das Team des folgenden Recherche-Theater-Projekts „Großes Kino DDR“ erneut Musik einbeziehen möchte, war dies für mich ein willkommener Anlass, die Unterhaltungsmusik der DDR aus den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren etwas besser kennenzulernen. Beim Hören diverser „Amiga Schlager Cocktail“-Sampler fiel mir auf, dass es in diesem Segment offenbar noch keine strenge Trennung zwischen Ost- und West-Künstlern gab. Selbst von Rita Paul, die im Rahmen der RIAS-Kabarettsendung „Die Insulaner“ so einige Spitzen gegen das ZK in fröhliche Lieder packte, und von Bully Buhlan, dem Westberliner Sunnyboy per se, sind in der DDR Platten erschienen und im Radio gespielt worden. Oder es wurden Hits aus Westdeutschland (die ihrerseits oft eingedeutschte Cover-Versionen US-amerikanischer Country- und Rock’n’Roll-Hits waren) von DDR-Schlagerstars neu eingesungen.

Erst nach dem Mauerbau und dann besonders ab dem Kahlschlag-Plenum im Dezember 1965 waren derlei Lizenzaufnahmen und Koproduktionen unerwünscht. Was auch linientreue Schlagersänger zu spüren bekamen, die das Pech hatten, viele Titel von Komponisten und Liedtextern im Repertoire zu haben, die in den Westen gegangen waren. So erging es etwa Hartmut Eichler, dem einstigen Talentwettbewerb-Gewinner des Berliner Rundfunks, der viele Lieder einsang, deren Texte der abtrünnige Günter Loose verfasste. Sie kamen alle auf die schwarze Liste, obwohl viele Melodien aus der Feder von Gerd Natschinski stammten, der in der DDR bis zuletzt eine Institution der leichten Muse war. So wurde der einstmals beliebte Solo-Interpret Eichler 1963 Mitglied des NVA-eigenen Erich-Weinert-Ensembles und schließlich Klubhausleiter der Volkssolidarität in Pankow. Das hatte sich der 24-Jährige vermutlich anders vorgestellt, als er 1961 die Natschinski/Loose-Komposition „Es fing so romantisch ein“ in einer Sendung des Deutschen Fernsehfunks zum besten gab.

Romantisch fing es 1962 auch für Bettina und Peter an, doch in der Inszenierung „Großes Kino DDR“ ist es Charles, der Darsteller des Schützen F.H., der diesen swingenden Ost-Schlager anstimmt. Dass ausgerechnet derjenige, der das „junge Glück“ vereitelte, in Erinnerungen an eine Bilderbuch-Nacht schwelgt, mag makaber anmuten. Andererseits erscheint es nicht abwegig, dass der in Württemberg seinen Lebensabend zubringende F.H. verlässliche Methoden entwickelt hat, unerfreuliche Gedanken auszublenden. „Geh‘n auch die Jahre und geht die Romantik vorbei / Bleiben wir uns doch ein Leben lang immer treu“. Wie treu sich F.H. geblieben ist, wissen wir nicht. Doch dass sein Handeln in jener Nacht allein auf Staatstreue basierte, darf nicht zuletzt nach F.H.s eigener Flucht, gerade mal acht Monate später, bezweifelt werden.

Bettina mit ihrer Band

Dem Schützen F.H. eine Affinität zu einschmeichelnden Foxtrot-Balladen zuzuschreiben, ist zugegebenermaßen fiktional. Auf sichererem Boden bewegen wir uns jedoch bei den damaligen musikalischen Vorlieben von Bettina. Nachdem Julia und Laura bereits längere Telefonate mit ihr geführt hatten, rief auch ich bei Bettina an, um ihr noch einige musikspezifische Fragen zu stellen. Kurz davor erreichte mich ein Jugendfoto von ihr, das sie, mit Gitarre um den Hals, in Gesellschaft drei anderer Musikanten zeigte: Bettina hatte eine Band!

Und so erfuhr ich, dass sie sich „Mit siebzehn“ (um gleich mal einen Peter-Kraus-Song zu zitieren, den „Die Kolibris“ im Programm hatten) bei einem FDJ-Kapellmeister namens Gerd Fete als Sängerin und Gitarristin bewarb, nachdem ihre eigentlich dafür vorgesehene ältere Schwester keine Zeit dafür hatte. Bereits Ende 1961 hatte das Quartett auf einer Weihnachtsfeier in Egeln seinen ersten Auftritt, dem noch viele folgen sollten: in Mitropa-Restaurants, bei Feierlichkeiten wie dem „Tag des Bergmanns“ und immer wieder im Parkettsaal der Wolmirslebener Gaststätte „Schwarzer Adler“, die genau neben dem Haus lag, in dem Bettina mit ihrer Mutter und Schwester wohnte.

Saal des “Schwarzen Adler”

Auch wenn vor den Konzerten beim obligatorischen Ausfüllen der AWA (das DDR-Äquivalent zur GEMA) wegen der 40/60-Regelung (die besagte, dass mindestens 60% der Musikstücke aus der DDR zu stammen hatte) stets darauf geachtet wurde, dass entsprechend viele volkseigene Titel gelistet waren, spielten die Kolibris „das, was gängig war und womit wir die Jugendlichen zum Tanzen brachten.“ Und das waren vor allem die deutschsprachigen Rock’n’Roll-Nummern von Conny Froboess und Peter Kraus, die dank der deutschsprachigen Sendung von Radio Luxembourg per Mittelwelle auch in Wolmirsleben gehört werden konnte. Wenn auch zuweilen mit wackligem Empfang. Was das Transkribieren der Songtexte („Wir hatten ja keine Schallplatten oder sonstige Aufzeichnungen, sondern waren ganz auf unsere knatternden Radios angewiesen“) zudem erschwerte.

Und so singt Laura (die wie Bettina ebenfalls Gitarre spielt) die damals von Conny geschmetterte deutsche Version des Paul-Anka-Hits „Diana“. Darin geht es vor allem um die Nöte eines sich nach Diana sehnenden Jungen, „achtzehn Jahre kaum“, der von ihr träumt „so manches Jahr“. Und der titelgebenden Diana wird von der seinerzeit 14-jährigen Conny didaktisch angeraten, nicht auf Traumbilder hereinzufallen. Im letzten Refrain folgt etwas unvermittelt die Empfehlung „Ja, dann bleib bei uns, Diana“ – was hinsichtlich Bettinas Geschichte einen besonders bitteren Beigeschmack bekommt.

Und da bei ihrer letzten Begegnung mit Peter Reisch ein Plüsch-Teddy aus Bettinas Elternhaus eine besondere Rolle spielte, lag es nahe, dass Peter Kraus‘ deutsche Variante des Elvis-Hits „(Let Me Be Your) Teddy Bear“ der Song für Manolo werden sollte.

Peter Reisch werden in Bettinas Erzählungen gute Manieren attestiert und der Minne im „Teddybär“-Lied stellt dann auch seine Vorzüge gegenüber Tigern („zu wild“) und Löwen (zu laut: „weil ein so großer Löwe immer brüllt“) hervor. Das deckt sich mit den Berichten über den damals 19-Jährigen, der, überwiegend aufgewachsen in einem reinen Frauenhaushalt, an ausgestellter Kraftmeierei offenbar wenig interessiert war.

Auf die Frage, welche Lieder Peter Reisch besonders gefielen (ob er je ein Kolibris-Konzert gesehen hatte, konnte sich Bettina nicht mehr erinnern), nannte sie „Der Schleier fiel von meinen Augen“, mit der die in beiden Teilen Deutschlands beliebte Sängerin Renée Franke Mitte der 1950er-Jahre reüssierte. Und dahinter verbirgt sich die inzwischen zum Jazz-Kanon zählende Ballade „Les feuilles mortes“ (alias „Autumn Leaves“). Was zum herbstlichen Premierentermin von „Großes Kino DDR“ natürlich prima passt.

Doch neben der einnehmenden Melodie des Filmkomponisten Joseph Kosma ist es vor allem der assoziationsreiche Text der deutschen Version, die das Lied dazu prädestiniert im Finale von „Großes Kino DDR“ zu erklingen. Vereint es doch die Schickale aller drei Figuren. Deren Darsteller*innen treffen in der letzten Szene erstmals aufeinander und drohen dabei prompt aneinander zu geraten, wäre da nicht ein Gitarrist zur Stelle, welcher besagte Ballade anstimmt.

Mag Jacques Préverts Reflexion über die Vergänglichkeit der Liebe vom deutschen Textdichter Ralph Maria Siegel auch sehr frei übertragen worden sein, so beschreiben Siegels Worte eine Desillusionierung, die sich ebenso auf die Entwicklung eines Staates beziehen liesse: “Der Schleier fiel von meinen Augen, durch den ich Dich bisher gesehen. / Der Schleier fiel, und auch mein Glauben an unser Glück muss still vergehen. / Das was einmal war, kommt nie wieder, weil sich die Welt doch weiterdreht. / Und das Ende aller Liebeslieder, hört leider das Herz viel zu spät.“

Über mich

Mein Name ist Markus von Schwerin. Seit 1999 arbeite ich als freischaffender Kulturjournalist und trete immer wieder mal als Vorleser und Bühnenmusiker in Erscheinung. Wie schon bei meiner ersten Teilnahme an einer Vajswerk-Produktion („Tamara Bunke. Eine Heldin wird gemacht“; 2018) wählte ich auch bei „Großes Kino DDR“ die meiste Musik aus und studierte sie gemeinsam mit den Schauspieler*innen ein.

Hier geht es zu den anderen Blogeinträgen: Projekt im Prozess – Großes Kino DDR.

VVK unter info[at]vajswerk.de. Eintritt: 10/7€.