Und dann fragten sie sich selbst

Am Ende erzählen die Schauspieler*innen sich gegenseitig, was sie erlebt haben. Was gab es für Überraschungen, was für Erkenntnisse? Und warum kann es authentischer sein, wenn ein Protagonist das Erlebte nicht eins zu eins wiedergibt?

Interview mit Charles

Laura: Gab es für dich im Zuge der Proben und Recherche Überraschungen?

Dazu fällt mir gerade eine Kleinigkeit ein. Ich war kürzlich im Fahrradkeller eines Freundes, um mit seinem Luftgewehr auf Blechdosen zu schießen. Alles nur für die Rollenvorbereitung, versteht sich! Nein, aber auch wenn das etwas vorgeschoben klingt, es hat wirklich etwas gebracht. Er erklärte mir, wie der Abzug einer Waffe zu betätigen sei: Im Moment des Ausatmens lässt du den Zeigefinger leicht schnippen, sodass der Auslöser betätigt wird. War mir vorher nicht klar. Ausatmen, die Waffe senkt sich leicht, dann eine isolierte Bewegung und schon schickst du eine Kugel auf den Weg, wohin auch immer. Deine Entscheidung. Fühlt sich irgendwie mächtig an. In unserm Fall haben wir nur ein paar Konserven vom Tisch befördert. In meinem Monolog gibt es eine Passage, in der der Moment des Schusses beschrieben wird, daher die Verbindung zum Luftgewehr.

Gewachsen ist meine Vorstellung von F.H. weniger durch diese Erfahrung, sondern vor allem durch die Diskussion und die Verständigung über die Dokumente. Gewisse Fragezeichen sind allerdings geblieben. Es gibt Dinge, die wir nicht gänzlich klären konnten. Trotzdem ist die Figur vor meinem inneren Auge deutlicher geworden. Zum Teil hängt das mit einer Phantasie, die sich durch die Beschäftigung anreichert, zusammen. Die Phantasie oder Vorstellung gründet sich dabei nicht nur auf Annahmen, sondern auf die zusammengestellten Quellen.

Laura: Hat sich deine Haltung zu F.H. verändert? Findest du ihn inzwischen sympathisch?

Tatsächlich ist er mir durch die Recherche nicht sympathischer geworden. Ich will ihn natürlich nicht verraten, als Darsteller muss ich mich ein stückweit mit meiner Vorlage identifizieren. Anders geht es nun mal nicht. Was ich zusätzlich unsympathisch finde, ist der Umstand, dass er sich nicht mit der Vergangenheit befassen wollte. Nicht bloß, weil er unsere Anfrage abgewiesen hat, sondern auch in den 90er-Jahren hat er es abgelehnt, weitere Aussagen zu tätigen. Die Haltung lässt sich vielleicht nachvollziehen, macht die Person jedoch nicht sympathischer.

Christian: Verstehst du deine Darbietung nur als eine Rolle?

Zunächst einmal, ich bleibe immer ich. Als Darsteller bist du sowieso immer wieder auf dich, deinen Körper und deine Eigenheiten zurückgeworfen. Bei „Großes Kino DDR“ ist meine Rolle bemüht, ihre Geschichte in ein besonderes Licht zu stellen. Noch mal fürs Protokoll: Mit Sicherheit haben sich die Ereignisse des 05.06.1962 nicht eins zu eins so abgespielt, wie ich es im Stück erzähle. Aber es war eine bewusste Entscheidung, meine Rolle es so schildern zu lassen. Eben etwas reißerisch und holzschnittartig. Vielleicht auch etwas stumpf. Es geht dabei nicht um eine forensische Authentizität, auch nicht um den Unterhaltungsfaktor. Im Rollentext gibt es immer wieder Brüche, in denen neben der Rolle auch der Rechercheur durchscheint. Das ist vor allem in der dritten Szene der Fall. Da treten wir alle ein gutes Stück von der Rolle zurück und berichten über den Prozess.

Interview mit Laura

Charles: Hast du während der Probenzeit etwas Neues oder Überraschendes erfahren?

Nein, eigentlich nicht. Ich hatte eine Idee und konnte diese Idee auch immer wieder durch Bettina bestätigen lassen. Wir haben sie ja oft angerufen. Mir war wichtig, keine Opferrolle einzunehmen oder eine trauernde Figur darzustellen. Im Gegenteil: Ich fand es wichtig, Bettina erstarken zu lassen und den Humor dabei nicht zu vergessen.

Wir sprechen über eine Frau, die in einer Band gespielt hat und ein frohes Leben hatte und wollte. Froh sein zu wollen ist nicht immer leicht und fordert Kraft und Anstrengung. Vielleicht sind meine Szenen von „Großes Kino DDR“ nicht immer objektiv – das müssen sie aber auch nicht sein. Wir haben versucht, verschiedene Facetten zu zeigen. Die ist mit „einer gängigen“ Meinung nicht immer konform. Das Publikum kann seine eigenen Meinungen bilden.

Christian (Tietz, Regisseur) und ich haben die Zeitebenen gut sortiert. Wann sprechen wir aus dem Jetzt über die Vergangenheit, und wann spricht die Bettina des Jahres 1962? Das macht diese Figur lebendig, was sie ja auch ist.

Charles: Wie war dein Zugang zur Musik?

Ich habe mich gern mit der Musik beschäftigt. Wir sprechen über Schlager aus den 1960er-Jahren. Conny Froboess und Peter Krauss, die auch Bettina mit ihrer Band „Die Kolibris“ interpretierten. Markus (von Schwerin, Musiker) hat eine gute Recherche und Musikauswahl getroffen und die Noten/Akkorde für mich leicht transkribiert. Mir macht diese Musik Spaß, ich finde sie aber gleichsam auch grausam. Die Inhalte und Melodien werden in diesen Nachkriegshits immer schöner und lieblicher: „Vergessen wollen wir die Qualen und Gräueltaten des Krieges. Lasst uns ein Liedchen trällern!“ Das schmeckt nicht jedem. Deshalb wollte ich zunächst „Diana“ etwas rockiger/verruchter gestalten, wobei ich mich an Nina Hagen orientiert habe. Am Ende haben wir uns aber für die liebliche Variante entschieden, was die 60er besser beschreibt.

Charles: Wie hast du dich in den Räumen des Notaufnahmelagers Marienfelde gefühlt?

Wir spielen in der Dauerausstellung Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in der Galerie. Es gibt hier drei Räume, in denen wir verteilt auftreten. Nebenan ist das Notaufnahmelager aktiv, laut Selbstaussage ist es ein Übergangswohnheim für bis zu 700 Flüchtlinge und Asylberwerber*innen. Ich sehe hier Menschen, die hier ein und ausgehen und das Schicksal einer Flucht teilen. Ich sitze neben ihnen an der Bushaltestelle und frage mich, ob ihre Geschichte auch mal erzählt wird.

Interview mit Manolo

Charles: Gab es bestimmte Aha-Momente, in denen du etwas erkannt hast?

Es gab eine Menge Aha-Momente. Einer der wichtigsten ist, eine Distanz zu wahren: Zu dem, was da passiert ist und dass ich eher berichte. Ein Puzzle-Effekt.

Charles: Musst du dich selber immer wieder zur Distanz zwingen?

Ja! Auch dafür, dass ich dem Publikum Zeit lasse, zu verstehen, wie sich das Puzzle für mich zusammensetzt, so dass das Publikum das Puzzle selbst zusammensetzen kann.

Charles: Gibt es Sachen, die dich emotional berühren in dieser Geschichte oder in der Figur?

Ja, die Darstellung der Flucht oder die Angst, die er hatte, rüber in den Westen zu gehen. Die Mini-Szenen/-Dialoge mit „Tinchen“ verleiten mich dazu, schauspielerisch in eine Liebesszene einzusteigen. Auch das war eine Entdeckung. Es war gar nicht alles so fest: Diese Liebe. Und nicht so tief, wie ich dachte. Ich bin davon ausgegangen, dass die beiden auf jeden Fall eine Intimbeziehung hatten. Dass sie sich geküsst haben, dass es eine große körperliche Nähe gab. Aber das scheint doch nicht so weit gewesen zu sein. Es war noch ein ganz vorsichtiges Annähern.

Charles: Was war das Besondere an dieser Rollenarbeit?

Das Besondere war, dass es eine „historische Figur“ ist – im Gegensatz zu den anderen beiden. Peter ist tot. Die anderen beiden leben. Ich gucke aus der Sicht des bereits Verstorbenen immer wieder auf die Situationen. Meine Beerdigung beispielsweise: Ich bin der Geist meiner eigenen Figur, erzähle, wie Tinchen als trauernde Braut am Grab stand, dass Spitzel und Katholiken auf meiner Beerdigung waren …

Charles: Hattest Du irgendwelche Konflikte in dieser Probenphase?

Ja, ich fand den Grat sehr schwierig. Der stetige Wechsel zwischen dem Einsteigen in das Erlebte und das, was ich mitteilen will, was da passiert ist. Also dem, was ich als Peter selbst erlebe und wie ich darüber berichte: als wenn ein innerer Reporter und der erlebende Spieler sich gegenseitig immer wieder das Mikrofon rüberreichen.
 
Charles: Wenn jetzt ein Zuschauer nicht weiß, ob er kommen soll oder nicht: Was habt ihr für Corona-Regelungen getroffen? Was erwartet einen?
 
Wir haben ein Hygiene-Konzept. Und alle Zuschauer müssen während der Darbietung Masken tragen. Im Gegensatz zum Theater werden wir keine große Bühne haben und dementsprechend die Stimme nicht laut erheben, sondern sehr intim in Zimmerlautstärke sprechen. Wir haben auch die Zuschauerzahl so angepasst, dass die aktuellen Abstandsregelungen eingehalten werden können. Es wird auch durchgängig gelüftet. Unter den bisherigen Maßgaben sind alle Bedingungen erfüllt. 

Hier geht es zu den anderen Blogeinträgen: Projekt im Prozess – Großes Kino DDR.

VVK unter info[at]vajswerk.de. Eintritt: 10/7€.