Anne Decker hat in der mittleren Projektphase die bis dahin gesammelten historischen Ereignisse für “Großes Kino DDR” zu einem Stücktext verfasst – der Grundlage für die Proben und Vorlage zum Rumkauen, Weiterspinnen, Anfassen und Verwerfen war.
Ausloten der Grauzone zwischen Gewaltstaat und Ostalgie
Daran knüpfte auch die Frage an: Wie lässt sich DDR-Geschichte überhaupt in einem Theaterabend verdichten? Weit vor Beginn des Schreibprozesses hat mich Charles Toulouse auf den inspirierenden Beitrag von Carola Rudnick während einer Podiumsdiskussion beim Deutschlandfunk aufmerksam gemacht. Sie sprach zum Thema „DDR neu erzählen“ und beschrieb zwei bisherige Pole der DDR-Geschichtsschreibung: Entweder wird sie als Gewaltstaat dämonisiert oder in Ostalgie verharmlost. Das wurde zum omnipräsenten Diskussionsthema in der Gruppe. Wir wollten uns in die Grauzone begeben. Und sind dabei auf ein nicht weniger polarisierendes Thema gestoßen: Flucht. Wie gehen wir damit um, dass wir ein mediales Dauerthema als Flaggschiff eines Theaterabends ausweisen?
Voll mit diesen Fragen bin ich in den Schreibprozess eingetaucht. Erst mal musste ich alle verorten: Die Menschen, die da greifbar werden sollen, die Punkte, von denen aus sie ihre Geschichte betrachten, und die Linien, die sie miteinander verbinden. Stehen sie ganz nah beieinander und teilen ein Schicksal? Wie nah stehe ich ihnen und was ist mein Standpunkt zu ihrer Erzählung?
Die Ortswahl bestimmt die Dramaturgie
Dass die Vorstellungen im Notaufnahmelager Marienfelde stattfinden, dort wo Peter Reisch selbst nach seiner ersten Flucht in die BRD gelandet war, ist das Besondere an der Theaterarbeit mit Vajswerk für mich. Die Ortswahl bestimmt die Dramaturgie, da die Räume eine eigene Atmosphäre haben, die den Umgang mit der Geschichte beeinflussen.
Wie habe ich den Figuren dann eine Stimme gegeben? Um mich ihnen zu nähern, habe ich mich mit ihnen in den Dialog begeben. Das heißt, ich habe losgelegt und einen ersten Text verfasst, in dem die Figuren mir dann zum ersten Mal gegenüberstanden. Dieser Erstentwurf war immer ein kleiner Kampf. Die Figur, die da zu Worte entstehen sollte, wehrte sich gegen meine Sprache. Zu viel von mir als Autorin steckte darin. Sie fühlte sich übergangen. Also habe ich die Szene überarbeitet. In dieser neuen Fassung trafen die Figur und ich uns wieder. Langsam merkte ich, wie sie spricht. Sie wurde mir immer fremder. Und gleichzeitig erkannte ich sie von Mal zu Mal klarer. Ich fand heraus, welche Sätze und Überzeugungen sie verinnerlicht hatte. Bis es nicht mehr meine Stimme war, die da aus dem Papier sprach.
Dieser psychologische Schreibansatz war ein intensiver Prozess, in dem ich Texte überworfen und neu geschrieben habe, sie im Team zur Disposition stellte, Feedback einholte, die nächste Version schrieb … Bis nach mehreren Versionen ein spielbarer Text vor uns lag.
Zu Beginn der Proben waren dann noch so viele Informationen aufgetaucht, sodass die Peter-Szenen vom Schauspiel- und Regieteam komplett neu geschrieben wurden und die Bettina-Szenen ebenfalls einen frischen Anstrich bekamen. Im Probenprozess entwickeln die Schauspieler und der Regisseur außerdem weitere Szenen, sodass das Textkonvolut bis zur Premiere eine flüssige Masse bleibt, die nie richtig fest wird.
Über mich
Mein Name ist Anne Decker und ich bin freischaffende Theatermacherin – sowohl im Theater als auch im öffentlichen Raum, meiner Lieblingsbühne. Ich bin 1989 in Hoyerswerda geboren. Schreiben über die DDR ist für mich unter anderem eine Auseinandersetzung mit dem sozialen Kontext, in dem meine Eltern aufgewachsen sind und der mich stark prägte.
Hier geht es zu den anderen Blogeinträgen: Projekt im Prozess – Großes Kino DDR.
VVK unter info[at]vajswerk.de. Eintritt: 10/7€.