Kurz vor Schluss meldet sich der Regisseur von „Großes Kino DDR“. Er hat zwar nicht das letzte Wort, das Spiel vor Publikum steht ja noch aus, wirft aber einen abschließenden Blick auf die Werkstatt, in der alles entstand: die Idee, das Konzept, die Recherche, die Texte, das Ausprobieren und Weiterdenken, das Sprechen und Spielen. Alles also. Wie denn?
Die Geschichten kommen oft zu uns. Julia hat in ihrem Eröffnungsbeitrag erzählt, wie die jüngste Geschichte uns erreichte. Auf ähnlichem Wege kamen wir schon auf das Vorgängerprojekt von „Großes Kino DDR“: Mit „Tamara Bunke. Eine Heldin wird gemacht“ zeichneten wir zum ersten Mal ein ungewöhnliches Bild der DDR-Geschichte.
Auch bei unseren Arbeiten zur NS-Geschichte kamen wir durch persönliche Begegnungen zu Berl Kostinski, Anne-Marie Meier-Graefe Broch, Käte Laserstein und in gewisser Weise auch zu den sowjetischen und jugoslawischen Zwangsarbeitern im deutsch-besetzten Norwegen. Zu Beginn erzählten Dina und Jovan Rajs bei mir um die Ecke von ihrem Leben. Mit „Das Spiel von Dina und Jovan“ (Foto oben) entstand Vajswerk Recherche Theater Berlin. Dina ist eine geborene Vajs: Biographische Forschung und deren szenische Umsetzung sind Vajswerks Kern. Die Recherche und das Spiel: die Recherche, die auf das Spiel hinausläuft; das Spiel, in dem die Recherche sichtbar bleibt. Die Forscher* und Darsteller*innen sind mal Jugendliche, mal Historiker*, mal Schauspieler*innen. In einem mehrmonatigen und kollektiven Arbeits- und Probenprozess entstehen Uraufführungen. Einmal übernahm quasi Ida Fink die Vorarbeit; sie schrieb ein Theaterstück über ihre eigenen Erfahrungen und Recherchen. 2018 zeigten wir „Der Tisch“ als deutschsprachige Erstaufführung im Haus der Wannsee-Konferenz. Ida Fink erzählte von einem Tag im Winter 1942 in vierfacher Perspektive, mit vier Stimmen/Zeugen; das Publikum durchlief vier Räume, Stück für Stück entstand ein detailliertes und auch widersprüchliches Bild.
Die Erfahrungen mit Ida Finks „Der Tisch“ gaben uns eine Vorstellung von „Großes Kino DDR“. (Dass ich in einem früheren Theaterleben Akutagawas und Kurosawas „Rashomon“ inszenierte, hatte für mich auch eine Bedeutung.) Mit der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde fanden wir einen passenden Kooperationspartner, was sowohl das Thema als auch die Logistik betrifft: Die Dauerausstellung zur Flucht im geteilten Deutschland wird im Erdgeschoss in drei Räumen gezeigt, das sind unsere Spielorte. Auf den benachbarten (Kino-)Saal müssen wir allerdings corona-bedingt verzichten. – Zum Ensemble gehörten Laura und Charles bereits in „Der Tisch“ und „Tamara Bunke“; Manolo kam im Garten des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst hinzu, in „Der Sommer nach dem Krieg“.
Von einem Land, den Menschen erzählen
Mit „Großes Kino DDR“ wollen wir von der DDR-Geschichte erzählen. Aber auch zeigen, wie von der DDR erzählt wird, seitdem sie zur Geschichte wurde. Dies versuchen wir mit einem authentischen Fall. Einer Geschichte, die wahr ist und sich schlechterdings instrumentalisieren lässt. Von drei Personen ist die Rede: einem Mann, einer Frau, einem Schützen. Wir können zeigen, wie man in diesem Land DDR sein Leben leben, wie man dort zu Tode kommen, wie man – Vergatterung! – zum Täter werden konnte. Dass ich persönlich den Täter als Mörder sehe, den DDR-Sozialismus als Gewaltherrschaft, ist dabei belanglos. Es geht nicht um Rubriken und Meinungen, nicht um eine einheitliche Erzählung. Die gibt es nämlich nicht. Erzählt wird in dreifacher Perspektive, in drei Kapiteln, in drei Räumen, mit einem Finale, in dem wir endlich fixierte Bilder sehen wollen.
Für die drei historischen Figuren gibt es drei unterschiedliche Quellenlagen; die drei Schauspieler*innen machen dies in ihren dritten Szenen zum Thema. Charles folgt in seinen ersten beiden Szenen noch einer fiktionalen Spur, die Manolo und Laura bewusst verließen; viel ist passiert im Laufe eines Jahres. Julia, Manolo, Laura, Charles, Stefan, Mirko, Anne, Markus, Charles-Laura-Manolo und nun ich haben beschrieben, aus welchen Richtungen wir uns einem Punkt näherten: der Vorstellung von „Großes Kino DDR“. Das Publikum setzt jetzt aus Einzelteilen eine Geschichte zusammen – wie wir es taten. Die jeweilige Geschichte muss dabei nicht unsere sein. Jede Zuschauerin wird zur eigenen Autorin, jeder Zuschauer zum eigenen Autor – der Geschichte der Drei, des Landes, in dem wir heute leben. Der Gedanke der Eigenständigkeit und Eigenverantwortung setzt sich in der filmischen Umsetzung fort. Im Anschluss an den Stream am 12. November, der nur einmal läuft, ist “Großes Kino DDR” weiterhin zu sehen. Allerdings nicht als 1 Film, der durchläuft: Jede*r Betrachter*in muss wählen, mit welcher Geschichte sie oder er beginnt. Im Kino sitzen wir schließlich beisammen; aber was für ein Film erwarten wir denn jetzt?
Natürlich suchen wir nach exemplarischen Geschichten, nach Menschen, die stellvertretend etwas über ihre Zeit, über ihr Land erzählen können. Manchmal werden diese echten Menschen so stark, dass sie unsere ganze Aufmerksamkeit verlangen und die Intention in den Hintergrund gerät. Haben die Drei aus dem Sommer 1962 im Herbst 2020 überhaupt eine Chance, gehört und gesehen zu werden, wo die Gegenwart so übermächtig und überhitzt und laut ist? Was? Wie? Bitte? – Pst! Es geht los!
Über mich
Mein Name ist Christian Tietz. Wie zu merken war, bin ich nicht nur Regisseur, sondern auch Historiker und Vajswerker. So kann ich das machen, was ich schon immer machen wollte, mit anderen.
Hier geht es zu den anderen Blogeinträgen: Projekt im Prozess – Großes Kino DDR.